Amnesie (Gedächtnisverlust) - Ursachen und Ausprägungsformen

Unter einer Amnesie versteht man eine Form der Gedächtnisstörung. Dabei können bestimmte Gedächtnisinhalte nicht mehr aufgerufen werden.

Von Jens Hirseland
Klassifikation nach ICD-10: F04 F44.0 R41.1 R41.2 R41.3
ICD-10 ist ein weltweit verwendetes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Der sogenannte ICD-Code ist zum Beispiel auf einem ärztlichen Attest zu finden.

Spricht man von einer Amnesie, ist damit eine Gedächtnisstörung gemeint, bei der die betroffenen Personen entweder nicht auf Gedächtnisinhalte zurückgreifen können oder nicht mehr in der Lage sind, sich neue Inhalte zu merken. Man unterscheidet zwischen unterschiedlichen Formen der Amnesie.

Definition

Der Begriff "Amnesie" entstammt dem Griechischen und bedeutet soviel wie "ohne Gedächtnis" oder "ohne Erinnerung".

  • Ein typisches Merkmal der Amnesie ist, dass sich die Betroffenen an bestimmte Dinge aus der Vergangenheit nicht mehr erinnern.
  • Aber auch neuere Gedächtnisinhalte können verloren gehen.

Besonders betroffen von Gedächtnisverlust ist das so genannte episodische Gedächtnis. Dabei handelt es sich um den Bereich des Gehirns, in dem Informationen über persönliche Erlebnisse abgespeichert werden.

Häufig verschont bleibt dagegen das prozedurale Gedächtnis, also der Teil, der Handlungsabläufe oder Vorgänge speichert. Daher sind Amnesiepatienten nach wie vor in der Lage, beispielsweise Flaschen zu öffnen oder sich anzuziehen.

Formen

Mediziner unterteilen die Amnesie in

  • anterograde
  • retrograde
  • globale
  • transiente globale
  • kongrade
  • infantile und
  • psychogene

Amnesie.

Anterograde Amnesie

Die anterograde Amnesie, bei der es sich um die häufigste Amnesie-Form handelt, wird auch als vorwärtswirkende Amnesie bezeichnet. Das bedeutet, dass die betroffene Person nicht mehr oder nur unzureichend in der Lage ist, neue Inhalte in ihrem Gedächtnis zu speichern und schon nach wenigen Minuten wieder alles vergisst.

Sogar die Vergesslichkeit selbst wird vergessen. Darüber hinaus lassen sich auch Informationen nicht mehr richtig abrufen. Da vor allem das Langzeitgedächtnis von der anterograden Amnesie betroffen ist, findet sich der Betroffene in der Gegenwart durchaus noch zurecht.

Retrograde Amnesie

Bei der retrograden oder rückwirkenden Amnesie sehen sich die Patienten nicht mehr dazu in der Lage, Gedächtnisinhalte aufzurufen, die vor einer Hirnschädigung abgespeichert wurden. So können sie sich nicht mehr an bestimmte Zusammenhänge oder Bilder erinnern.

Zu einer retrograden Amnesie kommt es vor allem nach Verletzungen des Gehirns. Ihre Dauer schwankt zwischen wenigen Sekunden und mehreren Monaten; zwischen der Länge des Gedächtnisverlustes und dem Ausmaß der Hirnschädigung besteht jedoch kein unmittelbarer Zusammenhang. In den meisten Fällen steht die retrograde Amnesie dagegen in Zusammenhang mit der anterograden Amnesie.

Globale Amnesie

Als schwerste Amnesieform gilt die globale Amnesie. Dabei werden Erinnerungen vergessen, die sich Jahre oder gar Jahrzehnte vor der Krankheit ereignet haben.

Aber auch neue Gedächtnisinhalte lassen sich nicht mehr abspeichern, wodurch die Patienten nichts mehr lernen können. Lediglich das prozedurale Gedächtnis, das für Abläufe zuständig ist, bleibt unbeeinträchtigt. Eine globale Amnesie ist irreversibel.

Transiente globale Amnesie

Bei der transienten globalen Amnesie (TGA), die auch episodische Amnesie genannt wird, handelt es sich um eine vorübergehende Gedächtnisstörung. Davon betroffen sind sämtliche Gedächtnisinhalte wie Gefühle, Sprache und Bilder. Die Dauer der episodischen Amnesie schwankt zwischen einer Stunde und einem Tag.

Neue Inhalte kann sich der Patient dabei nur maximal drei Minuten lang merken, sodass es ihm unmöglich ist, sich örtlich und zeitlich zu orientieren. Aus diesem Grund stellen die Betroffenen wieder und wieder dieselben Fragen, selbst nach deren Beantwortung.

Darüber hinaus können sie sich auch nicht mehr richtig an Vorgänge erinnern, die vor der Amnesie stattfanden. Erlernte Tätigkeiten wie beispielsweise Kochen, Spielen oder sogar Autofahren lassen sich jedoch nach wie vor ausführen. Eine transiente globale Amnesie bildet sich wieder von selbst zurück. Folgeschäden sind nicht zu befürchten.

Psychogene Amnesie

Von einer psychogenen Amnesie spricht man, wenn der Patient Erlebnisse oder Situationen verdrängt, die von ihm als traumatisch empfunden werden.

Infantile Amnesie

Unter einer infantilen Amnesie versteht man die Unfähigkeit von erwachsenen Menschen, sich an Dinge zu erinnern, die vor dem dritten Lebensjahr stattfanden. Mediziner erklären dieses Phänomen mit der Hirnreifung oder der Ich-Reifung.

Kongrade Amnesie

Als kongrade Amnesie bezeichnet man einen Gedächtnisverlust, der sich auf ein bestimmtes Ereignis beschränkt. So kann sich der Betroffene an diese Situation nicht mehr erinnern, obwohl die rückwirkende Erinnerung intakt ist. Auch neue Dinge lassen sich problemlos im Gedächtnis abspeichern.

Ursachen

Die Ursachen für eine Amnesie sind vielfältig. Häufig kommt es aufgrund von Unfällen, bei denen eine Gehirnerschütterung oder eine Schädel-Hirnverletzung auftreten, zu Gedächtnisverlust.

Aber auch bestimmte Krankheiten können eine Amnesie hervorrufen. Dazu gehören vor allem

Weitere mögliche Ursachen sind

Diagnose

Kommt es häufiger zu Gedächtnislücken, ist es ratsam, einen Arzt zu konsultieren, da sich hinter diesen Problemen behandlungsbedürftige Erkrankungen verbergen können. Zunächst fragt der Arzt den Patienten, seit wann die Gedächtnisprobleme auftreten und ob bestimmte Medikamente eingenommen werden.

Um das Gedächtnis zu überprüfen, findet ein Gedächtnistest statt. Dabei muss der Patient zum Beispiel lange Zahlenreihen aufsagen, um das Kurzgedächtnis zu testen. Zur Überprüfung des Langzeitgedächtnisses kommt unter anderem der Minimal-Mental-Status-Test zur Anwendung, bei dem der Patient rechnen, zeichnen und sich an Wörter erinnern soll. Auf diese Weise kann der Arzt mögliche Gedächtnisstörungen feststellen.

Um eventuellen Hirnschädigungen auf die Spur zu kommen, werden bildgebende Verfahren durchgeführt, wie eine Computertomographie (CT) oder eine Magnetresonanztomographie (MRT). Dadurch ist es möglich, Tumore, Hirnblutungen oder Verletzungen zu erkennen, die für die Amnesie verantwortlich sind.

Anhand einer Elektroenzephalographie (EEG) lässt sich feststellen, ob eine Epilepsie die Gedächtnisstörungen auslöst. Hinweise auf die Alzheimer-Krankheit kann eine Single-Photon-Emissions-Computertomographie (SPECT) liefern.

Behandlung

Auf welche Weise eine Amnesie behandelt wird, richtet sich nach ihrer Ursache.

Vorbeugen lässt sich einer Amnesie nicht.

Bei bestimmten Formen der Amnesie vergessen Patienten bestimmte Ereignisse, die zum Beispiel als sehr belastend empfunden wurden - wie Studien zeigen, lassen sich negative Inhalte aber auch willentlich löschen...

Update für das Gedächtnis - unangenehme Erinnerungen lassen sich verdrängen

Kann man belastende Erinnerungen willentlich löschen? Jahrhundertelang glaubte die Wissenschaft, das Gedächtnis sei ein unveränderliches Programm. Die moderne Hirnforschung behauptet das Gegenteil: Unsere Gedächtnisinhalte werden einem regelmäßigen Update unterzogen. Wenn dieser Prozess gerade läuft, lassen sich Erinnerungen gezielt verändern.

Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) haben amerikanische Forscher das Gehirn beim Verdrängen beobachtet. Was sie dabei sichtbar machten, war ein komplexes Wechselspiel zwischen verschiedenen Hirnregionen. Die Steuerzentrale für das bewusste Verdrängen liegt demnach im präfrontalen Kortex, einem Teil der Großhirnrinde, der in der Evolution erst sehr spät entstanden ist.

Gezielt vergessen

In mehreren Tests präsentierten die Wissenschaftler ihren Versuchspersonen insgesamt 40 Bildpaare. Das erste Bild zeigte jeweils eine neutrale Porträtaufnahme. Auf dem zweiten Foto war unter anderem der Tatort eines Verbrechens, ein Unfall oder ein verwundeter Soldat zu sehen.

Nachdem die Teilnehmer sich die Bilder eingeprägt hatten, wurden sie in den Magnetresonanz-Scanner geschoben, wo sie nun nur noch die Porträts zu sehen bekamen. Die eine Hälfte der Gruppe sollte sich zu dem gezeigten Bild jeweils das passende unangenehme Foto vorstellen. Die anderen Teilnehmer bekamen den Auftrag, die negative Erinnerung wegzuschieben. Je mehr die Probanden übten, desto gezielter konnten sie die Erinnerung verdrängen.

Im Scanner zeigte sich dabei ein mehrstufiger Prozess, gesteuert vom präfrontalen Kortex:

  1. Zunächst unterdrückte diese Steuereinheit die sensorische Verarbeitung, also die eigentlichen Bildeindrücke
  2. Im nächsten Schritt sendete der präfrontale Kortex Signale an zwei weitere Hirnregionen: das Gebiet, das für Gedächtnisprozesse zuständig ist und den Bereich für die emotionale Bewertung von Erinnerungen

Vorteil des Vergessens

Die meisten Menschen wünschen sich ein besseres Gedächtnis. Aus evolutionärer Sicht ist das Vergessen aber überlebenswichtig. Negative Erinnerungen könnten sonst ein Leben lang belasten.

Hätten die Steinzeitmenschen sich langfristig an den Angriff eines wilden Tiers oder andere Gefahrensituationen erinnert, wären sie nur noch ängstlich in der Höhle geblieben. Die Fähigkeit, unangenehme Erinnerungen zu verdrängen, hat sie vor dem Hungertod bewahrt.

Wie nachteilig schmerzhafte Erinnerungen sein können, beobachten Psychologen vor allem bei Patienten mit Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Mit einem Trainingsprogramm könnten diese Menschen nun angstbeladene Inhalte aus dem Gedächtnis tilgen.

Wie neuere Forschungen nahelegen, sind die Chancen auf therapeutisches Vergessen besonders gut, wenn die Erinnerungen gerade frisch reaktiviert wurden. So lange sich das Gedächtnis in der Rekonsolidierungsphase befindet, kann man die Erinnerungen einfach umschreiben.

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