Verkehrter Überbiss (Unterbiss, Vorbiss, Progenie)

Unter einem verkehrten Überbiss versteht man eine Fehlstellung des Kiefers. Dabei besteht ein frontaler Kreuzbiss der Schneidezähne.

Von Jens Hirseland

Ein verkehrter Überbiss wird auch als Progenie, Unterbiss oder Vorbiss bezeichnet. Darunter versteht man einen Fehlbiss (Dysgnathie), bei dem es zu einem unphysiologischen Überbiss der unteren Schneidezähne über die oberen Schneidezähne kommt.

Merkmale

Unterschieden wird zwischen einer echten Progenie und einer unechten Progenie. Während bei einer echten Progenie eine Überentwicklung des Unterkiefers besteht, ist bei einer unechten Progenie (Pseudoprogenie) der Oberkiefer unterentwickelt. Mitunter treten auch Kombinationen aus beiden Formen auf.

Die häufiger vorkommende Form eines verkehrten Überbisses ist die so genannte unechte Progenie. Dabei liegt der Oberkiefer weit zurück, während der Unterkiefer normal entwickelt ist.

Eine echte Progenie, die man auch als Mandibuläre Prognathie bezeichnet, kommt deutlich seltener vor. Charakteristisch ist ein Vorstand des Unterkiefers, der gegenüber dem Oberkiefer zu stark entwickelt ist.

Ursachen

Ursache für eine echte Progenie sind meist erbliche Faktoren. In manchen Fällen führen auch

  • Fehlfunktionen der Zunge
  • eine vergrößerte Zunge oder
  • Behinderungen bei der Nasenatmung

zu einer verminderten Entwicklung des Oberkiefers. Als Sonderfall gelten Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Hervorgerufen durch Narbenzüge, führen diese Spalten zu einem gehemmten Oberkieferwachstum.

Symptome

Eine echte Progenie lässt sich daran erkennen, dass das Kinn in Relation zum Mittelgesicht weit vorne steht. Typisch für eine unechte Progenie sind eine eingefallene Oberlippe sowie ein abgeflachtes Mittelgesicht.

Innerhalb des Mundes bestehen häufig ein breiter Unterkiefer sowie ein nur schmal ausgebildeter Oberkiefer. Während bei dem Unterkiefer Lücken entstehen, die auf den Platzüberschuss zurückzuführen sind, leidet der Oberkiefer dagegen unter Platzmangel. Viele Betroffene atmen meist durch den Mund.

Beschwerden

Durch eine Progenie kann es zu verschiedenen Beschwerden kommen. Dazu gehören

Behandlung

Ein verkehrter Überbiss kann durch eine kieferorthopädische Therapie behandelt werden. Je früher die Behandlung beginnt, desto größer die Aussicht auf Erfolg.

Durch die kieferorthopädische Behandlung soll die Oberkieferbasis entwickelt und der Platzmangel behoben werden. Weitere Behandlungsziele sind

  • das Überstellen des Kreuzbisses
  • das Halten des Unterkiefers und
  • das Erreichen einer Neutralverzahnung.

Des Weiteren wird die Frontzahnstellung richtig eingestellt. Zu diesem Zweck werden Apparaturen, die entweder fest sitzen (Multibracketsysteme) oder sich herausnehmen lassen, eingesetzt.

Behandlungsverfahren

Als erfolgreich gilt die Verwendung eines Funktionsreglers nach Fränkel. Dabei handelt es sich um ein funktionskieferorthopädisches Gerät zum Herausnehmen. Die Flächen des Geräts bestehen aus Kunststoff; sie sorgen für eine Zugspannung der Muskeln im Mundbereich bei Aktivität.

Es kommt somit auch zum Zug auf die Schleimhaut sowie der darunter sitzenden Knochenhaut. Dies macht eine zielgerichtete Anregung des Knochenwachstums im Oberkiefer und im Mittelgesicht möglich. Bestenfalls beginnt die Therapie mit dem Funktionsregler in einem Alter von 6 oder 7 Jahren; auf diese Weise haben die Patienten kaum Sprechprobleme.

Eine andere Behandlungsmöglichkeit ist die so genannte Delairemaske. Dabei handelt es sich um ein Gerät, welches an den Kopf bzw. das Gesicht gesetzt wird und über eine Stirnmaske sowie eine Kinnkappe verfügt, welche durch einen Steg miteinander in Verbindung stehen.

Auf der Höhe des Mundes befindet sich ein Querbügel mit elastischen Gummizügen. Diese sorgen dafür, dass der Oberkiefer nach vorne gezogen wird.

Das Wachstum des Oberkiefers nach vorne wird unterstützt, während das Wachstum des Unterkiefers gebremst wird. Patienten (idealerweise zwischen 7 und 9 Jahre alt) tragen die Maske in der Regel nachmittags und nachts.

Damit es nicht zu unkontrolliertem Wachstum kommt, muss die kieferorthopädische Therapie über das pubertäre Wachstumsmaximum fortgesetzt werden. Auf diese Weise kann eine normgerechte und nachhaltige Okklusion erzielt werden.

Operative Eingriffe

Lässt sich das Wachstum jedoch nicht ausreichend durch die kieferorthopädischen Maßnahmen beeinflussen, besteht die Möglichkeit, nach dem 18. Lebensjahr eine kieferchirurgische Behandlung durchführen zu lassen. Dabei wird zumeist eine operative Vorverlagerung des Oberkiefers vorgenommen. Eine andere Operationsmöglichkeit ist die Rückverlagerung des Unterkiefers mithilfe von Mini-Titanplatten.

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