Gedanken über Theater-Arbeit

Denken wir uns einen Schauspieler auf der Bühne. Das Publikum hat Eintritt bezahlt, den Mantel abgegeben und nimmt pünktlich seinen Platz im Zuschauerraum ein. Das Licht im Saal geht aus die Erwartung ist im Raum spürbar, die Schaulust steht in alle Gesichter geschrieben, ein Schauspieler betritt die Bühne, eventuell mit einem Stuhl, den er an die Rampe stellt, setzt sich und sieht ohne jede Gemütsregung ins Publikum. Nehmen wir an, er verharrt nun 4 Minuten 33 Sekunden in völliger Stille. Wie würde ein Publikum reagieren? Wenn im Programm ein Werk von John Cage angekündigt worden wäre – würde das Publikum die 4:33 einfach durchstehen? Wäre es schwieriger, die 4:33 auszuhalten, wenn der Schauspieler ein Spielzeugklavier dabei hätte, weil man dann ständig die Erwartung hätte, dass er endlich anfängt, auf dem Spielzeuginstrument etwas zu spielen? Egal was? Hauptsache Töne? Würde man sich nach zwei Minuten über jedes Husten des Schauspielers freuen? Würde man, wenn nach drei Minuten die ersten Zuschauer den Saal verlassen, überlegen, das auch zu tun, dann aber denken, dass da bestimmt noch etwas kommt und dann hätte man drei Minuten Lebenszeit vergeudet, ohne dafür belohnt zu werden? Würde man einfach ins Dösen kommen und beschließen, wieder mehr ins Kino zu gehen? Würde man die Situation einfach genießen? Würde es irgendetwas ändern, wenn der Schauspieler nach dreieinhalb Minuten ein Schild hervorholt, auf dem steht, dass es sich hierbei um einen Warnstreik des Deutschen Bühnenvereins handelt, um auf die prekäre Situation der Theaterschaffenden hinzuweisen? Würde man da denken: „Scheiße, ich dachte, das ist Kunst und jetzt ist es einfach nur ein hundsgewöhnlicher Streik.“ Würden alle außergewöhnlichen Gedanken, die man in den letzten dreieinhalb Minuten entwickelt hat plötzlich wertlos sein?

Lutz Hübner über die Inszenierung von Arbeit