Tourette-Syndrom - Ursachen, Symptome und Behandlung

Die genauen Ursachen des Tourette-Syndroms sind noch unklar. Wie die Erkrankung verläuft, ist individuell verschieden. Das Tourette-Syndrom kennzeichnet sich durch unterschiedliche Tics. Die Diagnose stellt - je nach Alter des Patienten - der Kinderarzt oder Psychiater.

Von Jens Hirseland
Klassifikation nach ICD-10: F95
ICD-10 ist ein weltweit verwendetes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Der sogenannte ICD-Code ist zum Beispiel auf einem ärztlichen Attest zu finden.

Krankheitsbild

Unter dem Tourette-Syndrom oder Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (GTS) versteht man eine neuropsychiatrische Erkrankung. Dabei kommt es zum Auftreten von so genannten Tics.

Gemeint sind damit nervöse Zuckungen. Mitunter stoßen die Betroffenen auch unvermittelt beleidigende verbale Äußerungen oder merkwürdige Geräusche aus. Als Namensgeber des Tourette-Syndroms dient der französische Mediziner Georges Gilles de la Tourette (1857-1904), der im Jahr 1885 eine wissenschaftliche Studie über die bis dahin unbekannte neuropsychiatrische Erkrankung veröffentlichte.

Verbreitung

In der heutigen Zeit leiden weltweit etwa 0,5 Prozent aller Menschen unter dem Tourette-Syndrom. In Deutschland sind es schätzungsweise 40.000 Bundesbürger. In den meisten Fällen zeigt sich das Tourette-Syndrom schon bei Kindern im Alter zwischen sechs und sieben Jahren.

Ursachen

In den meisten Fällen handelt es sich beim Tourette-Syndrom um eine primäre Ticstörung, was bedeutet, dass die Ursachen angeboren sind. Die Ursache des Tourette-Syndroms liegt möglicherweise in einer Veränderung des Gehirns.

Bei Betroffenen sind einige Bereiche des Gehirns größer oder kleiner als bei gesunden Menschen. In einigen Familien kommt diese Erkrankung auch gehäuft vor, so dass sie auch genetisch bedingt und somit vererbt werden kann.

In sehr seltenen Fällen kann das Tourette-Syndrom als Symptom anderer Störungen auftreten; Mediziner sprechen dann von einer sekundären Ticstörung. Auslöser können hierbei beispielsweise

sein.

Verlauf

Meist beginnt das Tourette-Syndrom bei etwa sechsjährigen Kindern. Oftmals verschwinden die Tics nach Wochen oder Monaten von selbst, in anderen Fällen werden sie chronisch und bleiben dem Betroffenen ein Leben lang erhalten. In einigen Fällen hilft jedoch die Behandlung, so dass das Tourette-Syndrom geheilt werden kann.

Symptome

Patienten mit dem Tourette-Syndrom haben regelmäßig so genannte Tics. Jeder Betroffene zeigt andere Tics. Ein Tic kann zum Beispiel das

  • ständige Augenzwinkern
  • Räuspern
  • Hüpfen oder
  • Reißen an den eigenen Haaren

sein. Möglich sind auch

  • verzogene Mundwinkel
  • nervöse Zuckungen von Kopf und Schultern oder
  • einen weit aufgerissenen Rachen.

Durch die nervösen Zuckungen kommt es zu ungewollten Bewegungen der Muskeln. Dabei gilt es, zwischen einfachen Tics und komplexen Tics zu unterscheiden.

So sind von einfachen Tics nur wenige Muskelgruppen betroffen. Neben motorischen Tics kommt es aber auch häufig zu vokalen Tics. Das heißt, dass die betroffenen Personen immer wieder Geräusche von sich geben; so ahmen sie lautstark Tiere nach und grunzen, quieken oder muhen.

In schweren Fällen treten mitunter komplexe vokale Tics auf, wie das Ausstoßen von sinnlosen, beleidigenden oder obszönen Wörtern. Für die Betroffenen ist das Leben mit dem Tourette-Syndrom oft nicht einfach, denn viele Menschen haben von der Erkrankung ein verzerrtes Bild und bringen sie häufig in Zusammenhang mit Flüchen und obszönen Beleidigungen, da in den Medien in erster Linie über besonders schwere Fälle berichtet wird.

Einige Tourette-Patienten

  • schlagen sich auch selbst,
  • beleidigen andere Menschen oder
  • rufen lautstark obszöne Worte (Koprolalie).

Etwa ein Drittel aller Tourette-Patienten sind zusätzlich hyperaktiv oder haben eine Zwangsstörung.

Merkmale der Koprolalie

Anders als häufig angenommen, gibt nicht jeder Betroffene ständig Beleidigungen von sich. Leiden die Betroffenen jedoch unter Koprolalie, kann es in der Tat zum unwillentlichen Ausstoßen von Beleidigungen oder obszönen Gesten kommen.

Unter einer Koprolalie versteht man das unabsichtliche Benutzen von Fäkalsprache in völlig unangemessenen Situationen. So werden von den Betroffenen zwanghaft vulgäre, obszöne oder hasserfüllte Äußerungen gemacht, ohne dass diese einen Sinn ergeben; zum Beispiel kommen die heftigen Schimpfwörter oftmals inmitten eines Satzes vor.

Ein typisches Merkmal sind Veränderungen der Stimmlage und der Tonhöhe. Die Betroffenen schaffen es nicht, ihre Wortsalven zu steuern.

Schätzungen zufolge leiden rund 30 Prozent aller Tourette-Syndrom-Patienten unter Koprolalie. In den meisten Fällen prägt sich der vokale Tic in der Jugendzeit aus. Bei Jungen kommt er häufiger vor als bei Mädchen.

Ausprägungsformen

Manchmal spielt sich die Koprolalie aber auch nur in den Gedanken des Patienten ab, sodass keine Beleidigungen oder Flüche ausgestoßen werden. Eine Variante der Koprolalie ist die Kopropraxie.

Dabei führen die Betroffenen unkontrolliert obszöne Gesten, wie beispielsweise den "Stinkefinger" oder Masturbationsgesten aus, was für die Patienten und ihr Umfeld ebenfalls belastend sein kann. Die Ursachen der Koprolalie und der Kopropraxie sind nach wie vor unbekannt.

Koprolalie nicht nur beim Tourette-Syndrom

Obwohl die Koprolalie zu den bekanntesten Symptomen des Tourette-Syndroms zählt, kann sie auch bei anderen neurologischen Erkrankungen auftreten. Dazu gehören

Wie bereits erwähnt, zeigt sich eine Koprolalie lediglich bei etwa 30 Prozent aller Tourette-Syndrom-Patienten. Bei allen anderen tritt der komplexe vokale Tic jedoch nicht auf.

Diagnose

Je früher das Tourette-Syndrom erkannt und behandelt wird, desto besser sind die Heilungschancen. Kinder bauen ihre Tics oft in ihren Alltag mit ein, so dass sie anfangs nicht auffallen.

Kinder werden meist zuerst vom Kinderarzt untersucht. Dieser befragt die Eltern genau nach den Symptomen und wie oft diese auftreten.

Besteht der Veracht auf ein Tourette-Syndrom, schließt der Arzt zuerst andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen, wie zum Beispiel die Epilepsie, aus. Erst dann überfolgt die Überweisung zum Psychiater.

Gleiches gilt auch für die Behandlung bei Erwachsenen. Hier klärt der Neurologe zu Beginn der Behandlung körperliche Ursachen für die Tics ab und überweist den Patienten dann an den weiterbehandelnden Psychiater.

Behandlung

Normalerweise führen die Tics nicht zu wesentlichen Beeinträchtigungen, sodass keine ärztliche Behandlung erfolgen muss.

Medikamente

Oftmals werden Patienten mit Tourette-Syndrom Medikamente verschrieben, die die Tics lindern können. Medikamente sind jedoch nur dann notwendig, wenn der Patient sehr stark unter seinen Tics leidet.

Zu den angewandten Mitteln zählen vor allem Neuroleptika, wie zum Beispiel mit folgenden Wirkstoffen:

  • Sulpirid
  • Tiaprid
  • Pimozid und
  • Risperidon.

Hirnschrittmacher

Liegt ein sehr schweres Tourette-Syndrom vor, kann dem Patienten auch ein so genannter Hirnschrittmacher eingesetzt werden. Im Rahmen einer Operation wird dieser Schrittmacher in das Gehirn des Patienten eingesetzt und stimuliert so diejenigen Bereiche, die für das Tourette-Syndrom verantwortlich sind.

Selbsthilfegruppen

Vielen Betroffenen helfen auch Selbsthilfegruppen, in denen sie Kontakt zu anderen Betroffenen bekommen. Die Patienten können sich dort über die Erkrankung austauschen und lernen, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen und Sorgen sind.

Viele Tourette-Patienten kapseln sich von ihrer Umwelt ab, da sie dort auf Unverständnis gegenüber ihrer Erkrankung stoßen. In der Selbsthilfegruppe haben alle das gleiche Problem, so dass niemand ausgegrenzt wird.

Aufklärung

Da es oft lange Zeit dauert, bis das Tourette-Syndrom diagnostiziert wird, ist eine umfassende Aufklärung über die Erkrankung für den Patienten von entscheidender Bedeutung für seinen weiteren Krankheitsverlauf. Auch Freunde und Familie sollten über die Erkrankung aufgeklärt werden.

Ihnen sollte klar sein, dass der Tourette-Patient sie nicht bewusst beleidigen möchte, sondern dass er aufgrund seines Tics keine andere Möglichkeit hat. Je besser das Umfeld mit der Erkrankung zurechtkommt, desto besser fühlen sich die Patienten.

Psychotherapie

Oft werden die Patienten auch im Rahmen einer Verhaltens- oder Psychotherapie behandelt. Hier lernen die Patienten, ihre Tics zu kontrollieren und erste Anzeichen für einen erneuten Tic zu bemerken und entsprechend entgegenzuwirken.

Musiktherapie

Zu den weiteren Behandlungsmöglichkeiten zählt die Musiktherapie. Besonders das Musizieren auf einem Instrument, vor allem Schlagzeug und Orgel, da hier Hände und Füße arbeiten müssen, hat sich als wirksam erwiesen. Ebenso kann das stetige Üben von Takten, Phrasen und Tonleitern hilfreich sein.

Entspannungsmethoden

Auch das Erlernen von Entspannungsmethoden kann dem Betroffenen helfen, mit seiner Erkrankung leben zu können. Als hilfreich gelten die Progressive Muskelentspannung oder Autogenes Training, da sie die Selbstkontrolle des Patienten verbessern. In einigen Fällen verschwinden die Tics von alleine wieder, in anderen können die Tics nur gemildert werden.

Vorbeugung

Maßnahmen zur Vermeidung des Tourette-Syndroms sind nicht bekannt, da auch die Ursachen der Erkrankung noch nicht eindeutig geklärt sind.

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  • Susanne Andreae, Peter Avelini, Peter Avelini, Martin Hoffmann, Christine Grützner Medizinwissen von A-Z: Das Lexikon der 1000 wichtigsten Krankheiten und Untersuchungen, MVS Medizinverlage Stuttgart, 2008, ISBN 3830434545
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  • Frank H. Netter Netter's Innere Medizin, Thieme Verlagsgruppe, 2000, ISBN 3131239611
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  • Gerd Herold Innere Medizin 2020, Herold, 2019, ISBN 3981466098
  • Malte Ludwig Repetitorium für die Facharztprüfung Innere Medizin: Mit Zugang zur Medizinwelt, Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, 2017, ISBN 3437233165

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