Immunsystem bei Neugeborenen ist nicht schwächer, sondern gedrosselt

Abwehrkräfte auf "Sparflamme" - Immunsystem von Neugeborenen bereits komplett entwickelt?

Von Cornelia Scherpe
16. August 2017

Bislang ging man in der Medizin davon aus, dass Babys mit einem noch nicht komplett entwickelten Immunsystem zur Welt kommen. Die Abwehrkräfte bilden sich erst mit den Monaten nach und nach aus, bis das Kind im Alter von ungefähr einem Jahr ein fertiges Immunsystem hat.

Doch offenbar stimmt das gar nicht, wie Forschungsergebnisse jetzt nahelegen. Vielmehr scheint der kindliche Körper ganz bewusst das Immunsystem am Anfang auf "Sparflamme" zu halten.

Für die Studie arbeiteten die deutschen Forscher mit Eltern zusammen, die sich bereit erklärten, dass ihrem Kind regelmäßig eine kleine Blutprobe entnommen wurde. Im Labor konnten die Wissenschaftler dann die Immunaktivität im Detail nachverfolgen. Durch die Transkriptom-Analyse wurde die Aktivität von 20.000 Genen bei jeder Probe neu analysiert.

Bildung der benötigten Abwehrstoffe theoretisch möglich

Solange die Kinder nur wenige Wochen bis Monate alt sind, reagiert das Immunsystem nur sehr beschränkt auf Erreger. Die notwendigen Abwehrstoffe könnten aber sehr wohl gebildet werden, wie sich herausstellte.

Der Metabolismus der Kinder ist jedoch so eingestellt, dass die Programmierung der Immunzellen sie zunächst inaktiv sein lässt. Diese "Handbremse" wird Schritt für Schritt gelöst, bis eine normale Immunantwort nach circa zwölf Lebensmonaten vorhanden ist.

Warum arbeitet der menschliche Körper nach der Geburt auf diese Weise? Die Forscher haben dafür eine einleuchtende Theorie. Wäre das offenbar doch angeborene Immunsystem vom Moment der Entbindung an vollständig aktiv, läuft das Kind Gefahr, eine lebensbedrohliche Sepsis (Blutvergiftung) zu entwickeln.

Es kommt beim Austritt aus dem Mutterleib schlagartig mit Viren, Bakterien und auch harmlosen Stoffen, die irrtümlich für Erreger gehalten werden könnten, in Kontakt. Würde das Immunsystem sofort reagieren, käme es zu unzähligen kleinen und auch großen Infektionen. Die ausgebremsten Abwehrkräfte sind also ein schlauer Schachzug der Evolution.

Für die Medizin interessant werden könnten die beobachteten S100-Alarmine. Das sind Stoffe, die Neugeborene ausschütten, um zu verhindern, dass Bakterien ihre schlummernden Abwehrkräfte doch aktivieren. Eventuell könnten man die S100-Alarmine daher nutzen, um Patienten bei einer Sepsis zu behandeln.