Von wegen ausgewachsen: das Hirnareal für die Gesichtserkennung wächst im Erwachsenenalter

In einem Experiment mit 25 Erwachsenen und 22 Kindern wird der "synaptic pruning"-Ansatz widerlegt

Von Cornelia Scherpe
11. Januar 2017

In der Medizin ist weitgehend die Meinung verbreitet, dass nach dem Ende der Adoleszenz bei jedem Menschen das Gehirn ausgewachsen ist. Wer das Denkorgan regelmäßig fördert, kann die Menge an Synapsen lange Zeit halten, bevor das Volumen durch den Alterungsprozess abnimmt. Doch das stimmt nicht, wie immer mehr Forscher mit Studien zeigen. In einem aktuellen Versuch wurde deutlich, dass es ein Areal im Kopf gibt, das bei Erwachsenen noch weiter wächst: der Gyrus fusiformis.

Gyrus fusiformis bei Erwachsenen größer als bei Kindern

Der Gyrus fusiformis sitzt im Schläfenlappen und ist damit Teil der Großhirnrinde. Er wird aktiv, wenn der Mensch die Gesichter anderer sieht und sie erkennt/einordnet/bewertet. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, gehört die Gesichtererkennung zu wichtigen Fähigkeiten im Alltag.

In einem Experiment mit 25 Erwachsenen und 22 Kindern untersuchten die Wissenschaftler das Hirnareal. Alle Studienteilnehmer mussten sich in verschiedenen Versuchen Orte und Gesichter merken. Die dabei stattfindende Hirnaktivität wurde mittels Magnetresonanztomografie dokumentiert.

Tatsächlich war im Verhältnis zur Gesamtgröße des jeweiligen Gehirns der Gyrus fusiformis bei den Erwachsenen größer als bei den Kindern. Die zusätzliche Autopsie von zehn Verstorbenen zeigte, dass bei älteren Menschen das Gehirnareal ein größeres Volumen hat und damit "Windungen" aufweist, die Kinder noch gar nicht besitzen.

"Synaptic pruning"-Ansatz widerlegt

Diese Erkenntnis widerlegt den "synaptic pruning"-Ansatz. Dieser geht eigentlich davon aus, dass ein menschliches Gehirn bis zur Pubertät wächst, dann aber an Nervenzellen und besonders an Synapsen (also den Verbindungen zwischen Nerven) verliert.

"Pruning" im Sinne von "Stutzen" soll eine Metapher sein: Ein Baum wird irgendwann gestutzt, damit sich gezielt kraftvolle Triebe entwickeln können. Der "synaptic pruning"-Ansatz überträgt dies auf das menschliche Gehirn und sieht im Rückgang der Nervenvernetzung eine Spezialisierung des jungen Menschen. Doch offenbar kommen auch bei Erwachsenen sehr wohl komplett neue Synapsen hinzu.