Gewalt gegen Kinder vererbt sich - aber auch unbelastete Eltern schlagen häufiger als bekannt

Missbrauchserfahrungen ziehen eine tiefe Spur in der Psyche und können Opfer zu späteren Tätern machen

Von Dörte Rösler
9. April 2015

Misshandelte Kinder neigen später oft selbst zu Gewalttätigkeit. Laut den Akten der amerikanischen Kinderschutzbehörden wird jeder fünfte Betroffene gegenüber den eigenen Kindern ebenfalls übergriffig. Aber ist die Missbrauchserfahrung wirklich entscheidend? Eine neue Studie lässt Zweifel aufkommen: in vermeintlich unbelasteten Familien kommen

fast genauso häufig vor.

Langzeitblick auf die Gewalt

Für ihre Untersuchung sammelten die Forscher Daten aus mehreren Jahrzehnten. Aus den Akten der Behörden ermittelten sie zunächst 900 junge Erwachsene, die in ihre Kindheit misshandelt wurden. Als die Opfer Ende Zwanzig waren, führten sie eine Befragung mit ihnen durch und wiederholten diese im Abstand von rund 10 Jahren - bis die Teilnehmer Ende 40 waren.

Auch die Kinder der ehemals Misshandelten wurden engmaschig befragt. Parallel sprachen die Wissenschaftler mit 660 Gleichaltrigen ohne Missbrauchserfahrung.

Opfer werden zu Tätern

Die Ergebnisse bestätigen zunächst die Statistik der Behörde: rund jedes fünfte Opfer von familiärer Gewalt wird später selbst zum Täter. Während die Akten in 21 Prozent der Familien gewalttätige oder sexuelle Übergriffe verzeichnen, gaben im Interview 26 Prozent der Betroffenen zu, die eigenen Kinder zu schlagen oder zu vernachlässigen.

Mehr Gewalt in normalen Familien

Bei den Studienteilnehmern ohne Missbrauchserfahrung waren den Behörden nur in 12 Prozent der Fälle Übergriffe bekannt. Die direkte Befragung ergab jedoch ein anderes Bild. 23 Prozent der unbelasteten Erwachsenen räumte ein, die eigenen Kinder zu verprügeln oder zu misshandeln.

Die Vermutung: Da die Behörden bei vermeintlich normalen Familien nicht so genau hinschauen, bleiben viele Missbrauchsfälle unentdeckt.

Misshandlung belastet - ist aber kein Schicksal

Noch eines zeigt die Studie: Die Mehrheit der misshandelten Kinder kann die traumatischen Erlebnisse gesund überstehen. 79 Prozent der Opfer werden als Erwachsene gute Eltern. Missbrauchserfahrungen ziehen jedoch eine tiefe Spur in der Psyche.

So reagieren viele Betroffene empfindlich auf Stress und können ihre Impulse schlechter kontrollieren. Als Vater oder Mutter fehlt ihnen zudem ein positives Rollenvorbild.